Vor ziemlich genau einem Jahr sass ich mit meinem Bruder zusammen beim Frühstück in einem Café in Pokhara/Nepal. Das iPad stand aufgeklappt zwischen uns auf dem Tisch und am anderen Ende der Leitung war unser Vater in der Schweiz. Wir unterhielten uns, auf Schweizerdeutsch wohlverstanden, über dies und das, als plötzlich ein Herr in unsere kleine Runde stiess. Er steckte den Kopf zwischen uns, war sehr aufgestellt, begrüsste unseren Vater mit einem „Grüezi“ bevor er uns mitteilte, dass sie vor ein paar wenigen Tagen ein Spital in Pokhara eingeweiht hätten und es ihn freuen würde, wenn wir auf einen Besuch vorbei kämen. Bevor ich irgendwie gross realisieren konnte was passierte, war der gute Herr auch schon wieder weg. Ich widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm unseres iPads, als kurze Zeit später der Herr wieder bei uns stand mit einer Visitenkarte und einer Wegbeschreibung auf der Rückseite. Mit einem breiten Lachen drückte er uns die Karte in die Hand und verabschiedete sich freundlich. Herr Dr. med. Lukas Eberle.
Am Abend des selben Tages beschlossen mein Bruder und ich das Spital von Herrn Eberle zu besuchen. Als wir vor Ort ankamen, etwas ausserhalb des Stadtzentrums von Pokhara, fanden wir zwar einen sehr schönen Neubau vor, ruhig gelegen, aber völlig menschenleer. Ein junger Nepalese kam jedoch geradewegs aus dem Gebäude gelaufen, sozusagen in unsere Arme. Wir fragten ihn dann kurz, ob wir am richtigen Ort seien, beim Eye and Ear Hospital und zeigten ihm die Adresse. Er bestätigte unsere Annahme, erwähnte beiläufig, dass er allerdings auf dem Weg in den Feierabend war und er an einem Familienfest erwartet wird, kurz bevor er uns ohne wenn und aber um das Gebäude führte. Er sagte, dass es zwei Jahre dauerte, bis das Spital vor ein paar wenigen Tagen eröffnet werden konnte. Weiter erklärte er uns, dass Herr Dr. Eberle (Hals-, Nasen und Ohrenspezialist) vorab während mehreren Jahren nach Nepal gereist sei, um medizinische Hilfe zu leisten und die lokalen Ärzte auszubilden, bevor er eine Stiftung gründetete um den Bau des Spitals zu finanzieren. Der junge nepalesische Arzt verabschiedetet sich anschliessend von uns. Wir verabschiedeten uns im Gegenzug, verweilten allerdings noch kurz vor Ort, ich schoss zwei Fotos, bevor wir uns dann zu Fuss wieder Richtung Stadtzentrum von Pokhara aufmachten.
Gut sechs Wochen später erschienen die beiden Fotos am Bildschirm meines Computers an meinem Wohnsitz in der Schweiz. Dabei dachte ich sofort, mit den beiden Fotos lasse ich eine Postkarte drucken, die ich dann Herrn Lukas Eberle senden kann. Es dauerte dann allerdings weitere 9 Monate, bis ich meine Idee in Tat umsetzte. Vergange Woche schob ich den Brief in den Briefschlitz des Briefkastens an der örtlichen Poststelle meines Wohnortes.
Drei Tage später erhielt ich Antwort auf meinen Brief. Schon als ich den Brief verfasste und mich auf der Internetseite von Herrn Dr. Lukas Eberle nach seiner Adresse erkundigte, erfuhr ich, dass Herrn Eberle unfallbedingt nicht am arbeiten ist. Die E-Mail, als Antwort auf meinen Brief, erläuterte mir die Umstände des unfallbedingten Arbeitsausfalls von Herrn Eberle. Lukas Eberle ist im Januar 2016 in einem Lawinenniedergang verunglückt und seit dann noch nicht aus dem Koma erwacht.
Es ist verrückt, ich werde tagtäglich mit schweren Schicksalen und Menschen in Not konfrontiert, dazu muss ich nur die Zeitung aufschlagen. Sobald sich allerdings ein feiner Draht zwischen mir und einem solchen Schicksal erschlossen hat, so nimmt die Sache unfreiwillig ein viel grösseres Gewicht an.
Ich gehe in die Knie und ziehe den Hut vor Menschen wie Lukas Eberle und allen guten Seelen, die sich auf freiwilliger Basis für die Stiftung „Ear-for-Nepal“ engagieren.